Wie schon beim Corona Thema kommt die Wissenschaft zu kurz. die Politik bedient sich immer bei den Gleichen Wissenschaftlern bzw. noch schlimmer Experten.
Das sind die einflussreichsten Ökonomen Deutschlands – ein Ranking
Eine Auswertung, die der NZZ exklusiv vorliegt, zeigt, welche Experten die Debatten über Schuldenbremse, Bürgergeld und Rente prägen. In der Politik stossen sie dennoch häufig auf taube Ohren.
Stillstand, Rezession und Regierungskrise: Deutschland steckt fest. Während andere Industrieländer wachsen, kommt die grösste Volkswirtschaft Europas nicht vom Fleck. Dass ausgerechnet jetzt die Regierungskoalition über die richtige Wirtschaftspolitik zerbrochen ist, passt ins Bild dieser tief verunsicherten Republik.
Der finale Streit zwischen Kanzler Olaf Scholz und seinem geschassten Finanzminister Christian Lindner über die im Grundgesetz verankerten Fiskalregeln der Schuldenbremse zeigt dabei vor allem eines: Selten war guter Rat so teuer wie heute. Dabei mangelt es nicht an klugen Köpfen im Land. Kein Tag vergeht, an dem nicht Ökonomen ihre Expertise zur Wirtschaftslage anbieten. Wer dabei am meisten Gehör findet, zeigt das Deutschland-Ranking, das vom Schweizer Institut Media Tenor für die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft erstellt wurde.
Wer ist Deutschlands einflussreichster Ökonom?
Die Ergebnisse liegen der NZZ exklusiv vor, und sie sprechen eine deutliche Sprache: Über alle Themenfelder hinweg dominiert demnach Clemens Fuest, Chef des Münchener Forschungsinstituts Ifo, die wirtschaftspolitische Debatte. Zwischen Juli 2023 und Juni 2024 finden sich in den deutschsprachigen Leitmedien insgesamt 264 Zitate von ihm. Auf Platz zwei folgt die Wirtschaftsweise Veronika Grimm mit 161 Nennungen.
Das sind Deutschlands meistzitierte Ökonomen
Anzahl der Zitate in deutschsprachigen Leitmedien zwischen Juli 2023 und Juni 20241 / 34
Ökonom |
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Anzahl Zitate | |
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1. Clemens Fuest | 264 |
2. Veronika Grimm | 161 |
3. Marcel Fratzscher | 130 |
Umfasst alle wirtschaftlichen und politischen Themenfelder
Aufschlussreich ist auch die thematische Auswertung der Medienzitate – etwa wenn es um den Haushalt und die Staatsschulden geht. Zumindest in der Spitzengruppe des Rankings sind die Ökonomen hier genauso gespalten wie der Rest der Republik. Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), führt als Befürworter einer Reform die Rangliste an, dicht vor dem Freiburger Ökonomen und Lindner-Berater Lars Feld, der die Schuldenbremse vehement verteidigt. Die weiteren Spitzenpositionen verteilen sich ausgewogen zwischen den beiden Lagern.
Das sind die meistzitierten Experten zum Haushalt und zur Staatsverschuldung
Anzahl der Zitate in deutschsprachigen Leitmedien zwischen Juli 2023 und Juni 2024
1 / 4
Ökonom |
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Anzahl Zitate | |
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1. Michael Hüther | 33 |
2. Lars Feld | 30 |
3. Clemens Fuest | 29 |
Umfasst Themen wie: Haushaltspolitik, Verschuldung, Defizit, Überschuss, Einnahmen, Länderfinanzausgleich, Konsolidierung, Staatsbankrott, Steuergeldverschwendung
Weniger kontrovers sind die Meinungsdifferenzen der Ökonomen in anderen Themenfeldern. Wenn es um Inflation geht, sind es vor allem die Bankökonomen, die gehört werden – allen voran der Commerzbank-Chefökonom Jörg Krämer und sein Kollege Ulrich Kater von der Deka-Bank.
Das sind die meistzitierten Experten zu Inflation und Geldpolitik
Anzahl der Zitate in deutschsprachigen Leitmedien zwischen Juli 2023 und Juni 2024
Ökonom | Anzahl Zitate |
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1. Jörg Krämer | 64 |
2. Ulrich Kater | 40 |
3. Michael Heise | 28 |
4. Philip Lane | 27 |
5. Friedrich Heinemann | 25 |
6. Carsten Brzeski | 24 |
7. Karsten Junius | 19 |
8. Sebastian Dullien | 18 |
9. Holger Schmieding | 18 |
10. Michael Holstein | 17 |
Umfasst Themen wie: Währung, Euro, Rettungsfonds, Stabilitätskriterien, Zentralbanken, EZB, Zinspolitik, Zinsniveau und Zinssatz, Inflation, Deflation, Geldmenge
Bei Fragen zur internationalen Wirtschaft – von der Weltkonjunktur bis hin zum Zollstreit mit China – hat sich wiederum der IW-Ökonom Jürgen Matthes etabliert.
Das sind die meistzitierten Experten zur internationalen Wirtschaft
Anzahl der Zitate in deutschsprachigen Leitmedien zwischen Juli 2023 und Juni 2024
Ökonom |
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Anzahl Zitate | |
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1. Jürgen Matthes | 17 |
2. Volker Treier | 16 |
3. Klaus Wohlrabe | 15 |
Umfasst Themen wie: Aussenwirtschaft, Import, Export, internationales Finanzsystem, Handelsverträge, Zölle, WTO, Bankenaufsicht, Schuldenerlass, Umschuldung, Wirtschaftssanktionen, internationale Finanzhilfe, internationale Steuerabkommen
Doch die reine Medienpräsenz sagt wenig über den tatsächlichen Einfluss aus. Das Deutschland-Ranking bewertet deshalb auch wissenschaftliche Impulse, politische Beratung und die Resonanz in sozialen Netzwerken. In dieser Gesamtwertung bleibt zwar Fuest mit 477 Punkten vorn, auf Platz zwei rückt aber der diesjährige Nobelpreisträger Daron Acemoglu vor. Es folgen Marcel Fratzscher vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung mit 408 Punkten und Veronika Grimm mit 362 Punkten.
Das sind Deutschlands einflussreichste Ökonomen
Die Gesamtbewertung des Deutschland-Rankings misst neben der Medienpräsenz wissenschaftliche Impulse, politische Beratung und die Resonanz in den sozialen Netzwerken.
Ökonom |
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Punkte | |
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1. Clemens Fuest | 477 |
2. Daron Acemoglu | 433 |
3. Marcel Fratzscher | 408 |
4. Veronika Grimm | 362 |
5. Monika Schnitzer | 273 |
6. Ulrike Malmendier | 270 |
7. Lars Feld | 239 |
8. Jens Suedekum | 237 |
9. Moritz Schularick | 212 |
10. Paul Krugman | 204 |
11. Achim Wambach | 203 |
12. Gabriel Felbermayr | 193 |
13. Hans-Werner Sinn | 186 |
14. Andreas Peichl | 183 |
15. Thiess Büttner | 176 |
Maximal können 1000 Punkte erreicht werden. Sie setzen sich zusammen aus den vier Kategorien Wissenschaftszitate, Politik, Leitmedien und Social Media. Eine detailliertere Methode findet sich beim Forschungsinstitut Media Tenor.
Ökonomen als Parteisoldaten
Doch die Analyse von Media Tenor offenbart auch ein erstaunliches Missverhältnis: Von 584 058 untersuchten Berichten zu ökonomischen Themen basieren zu 56 Prozent auf journalistischen Einschätzungen, weitere 40 Prozent auf Aussagen von Politikern oder Lobbyisten. Nur in 4,2 Prozent der Fälle kommen überhaupt Wirtschaftsforscher zu Wort.
Und selbst wenn Ökonomen sprechen, ist wissenschaftliche Neutralität nicht garantiert. Bestes Beispiel: Marcel Fratzscher. Seine hohe Platzierung im Ranking verdankt er nicht zuletzt seiner Rolle als wirtschaftspolitischer Stichwortgeber für die SPD. Ob Staatsschulden, Mindestlohn oder Steuerfragen – Fratzschers Positionen decken sich auffällig häufig mit sozialdemokratischen Kernforderungen. Die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» nannte ihn deshalb einst süffisant den «lautstarken Claqueur der Sozialdemokraten».
Ähnlich verhält es sich mit seiner DIW-Kollegin Claudia Kemfert, die ihrerseits eine bemerkenswerte Nähe zu grünen Positionen pflegt. Ihre Studien zur Energiewende lieferten der Partei verlässlich Munition im politischen Kampf gegen die Kernkraft. Kritiker wie der Physiker Ulrich Waas bezeichnen ihre Arbeiten als «Musterbeispiele aus der Agitprop-Küche». Im neuen Ranking hat Kemfert bei Energiethemen bezeichnenderweise an Boden verloren – die als ausgewogener geltende Veronika Grimm hat sie von der Spitze verdrängt.
Das sind die meistzitierten Experten zur Energie
Anzahl der Zitate in deutschsprachigen Leitmedien zwischen Juli 2023 und Juni 20241 / 4
Ökonom |
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Anzahl Zitate | |
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1. Veronika Grimm | 19 |
2. Claudia Kemfert | 12 |
3. Andreas Löschel | 9 |
Umfasst Themen wie: Energiepolitik, Stromversorgung, Netz/Infrastruktur, Energieträger, Kernenergie, fossile Energie, erneuerbare Energien, Fracking, Biomasse, grüner Wasserstoff, E-Fuels.
Der Ifo-Chef Fuest räumt ein: «Natürlich sind auch Wissenschafter nur Menschen mit eigenen Überzeugungen.» Zwei Dinge müssten aber getrennt werden: Sachaussagen, die wahr oder falsch sein könnten – zum Beispiel, dass höhere Steuern die Arbeitsbereitschaft senkten. Und politische Werturteile wie der Wunsch nach mehr Umverteilung. Im Idealfall, so Fuest, liefere die Wissenschaft die Fakten, und die Politik entscheide dann über deren Verwendung.
Die Politik hört nicht zu
Doch genau daran hapert es. Die Politik zeigt sich oft beratungsresistent, wenn wissenschaftliche Erkenntnisse nicht ins eigene Weltbild passen. Paradebeispiel dafür ist die Rentendebatte: So fordern die Ökonomen Martin Werding, Veronika Grimm und Bert Rürup, die im Deutschland-Ranking im Themenfeld Rente nach Zitaten führen, seit Jahren eine Reform des gesetzlichen Vorsorgesystems und die Anhebung des Renteneintrittsalters. Kanzler Scholz hingegen spottet über die «Akademiker, die frühestens mit 25, 26 Jahren anfangen zu arbeiten», und bezeichnet ihre Vorschläge als realitätsfern.
Das sind die meistzitierten Experten zur Rente
Anzahl der Zitate in deutschsprachigen Leitmedien zwischen Juli 2023 und Juni 20241 / 3
Ökonom |
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Anzahl Zitate | |
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1. Martin Werding | 25 |
2. Veronika Grimm | 14 |
3. Bert Rürup | 12 |
Neben der politisch motivierten Auswahl von Experten kommt noch der Einfluss der Lobbyisten dazu.
So auch im Fall von Veronika Grimm, die im Auftrag von Siemens Einfluss auf die Politik nimmt.
Beide haben bekanntermaßen starken einfluss auf die Presse und so kommt es wieder zu der Gleichung: Nur Geld regiert die Welt.
Quelle: Media Tenor
Johannes C. Bockenheimer, Berlin 20.11.2024, 05.00 Uhr
Gerry Mayr
NZZ
Foto: NZZ und Imago